von
Wolfgang Schneider
Matthäus 21,19-20
19 Und er sah einen Feigenbaum an dem Wege, ging hin und fand nichts daran als Blätter und sprach zu ihm: Nun wachse auf dir niemals mehr Frucht! Und der Feigenbaum verdorrte sogleich.
20 Und als das die Jünger sahen, verwunderten sie sich und fragten: Wie ist der Feigenbaum so rasch verdorrt?
Markus 11,14.19-21
14 Da fing Jesus an und sprach zu ihm: Nun esse niemand mehr eine Frucht von dir in Ewigkeit! Und seine Jünger hörten das.
19 Und abends gingen sie hinaus vor die Stadt.
20 Und als sie am Morgen an dem Feigenbaum vorbeigingen, sahen sie, daß er verdorrt war bis zur Wurzel.
21 Und Petrus dachte daran und sprach zu ihm: Rabbi, sieh, der Feigenbaum, den du verflucht hast, ist verdorrt.
Dieser augenscheinliche Widerspruch wird auch oft angeführt, wenn "bewiesen" werden soll, dass die Bibel offensichtlich Widersprüche enthält, denn es kann ja nicht sein, dass ein Feigenbaum erst nach einiger Zeit, sozusagen erst über Nacht, verdorrt, andererseits aber bereits sofort verdorrt gewesen sein soll. Das kann in der Tat nicht sein - und dem war auch nicht so.
Beide Evangelienberichte sind in sich klar, und sie berichten davon, daß ein Feigenbaum verdorrte. Da es sich unmöglich um einen identischen Feigenbaum gehandelt haben kann, muss hier die Rede von zwei unterschiedlichen Feigenbäumen sein, mit anderen Worten, wir haben Berichte über zwei ähnliche, nicht über eine identische Situation vorliegen.
Um diesen augenscheinlichen Widerspruch zu lösen, ist es notwendig, den Zusammenhang der jeweiligen Stellen genau zu lesen, und insbesondere darauf zu achten, welche identischen Ereignisse in beiden Evangelien berichtet werden, um so den zeitlichen Ablauf zu erkennen und den jeweiligen Zeitpunkt zu bestimmen, wann sich die Verfluchung und das Verdorren des Feigenbaums bzw. der Feigenbäume zutrug. In der Studie Salbung Jesu und Einzug in Jerusalem habe ich einige Hinweise zum Ablauf der Ereignisse, die sich in jenen Tagen abspielten, gegeben, die auch für diese Studie von Bedeutung sind.
Zunächst ist festzustellen, dass Jesus auf einem Eselsfüllen nach Jerusalem einzog (vgl. Johannes 12,12-19 & Markus 11,1-11); dies geschah am Tag nach seiner Ankunft in der Nähe Jerusalems und dem Mahl im Hause des Lazarus (vgl. Johannes 12,1-11). Nachdem Jesus in den Tempel gegangen war und alles besehen hatte, kehrte er am Abend jenes Tages wieder nach Betanien zurück. Der Einzug auf einem Tier wird in Johannes 12 und auch in Markus 11 berichtet und dient als Anhaltspunkt.
Am nächsten Morgen nun zog Jesus erneut in Jerusalem ein, diesmal aber mit zwei Tieren. An diesem Tag ging Jesus wiederum in den Tempel, aber diesmal reinigte er den Tempel und wies die Geldwechsler und Kaufleute aus dem Tempel (vgl. Markus 11,12-19 & Matthäus 21,1-17). Die Reinigung des Tempels ist der wesentliche Anhaltspunkt, der in Markus 11 und auch in Matthäus 21 berichtet wird und den zeitlichen Rahmen weiter festlegt.
Es war nun an jenem Morgen, bevor Jesus zum zweiten Mal in Jerusalem einzog, dass er auf dem Wege nach Jerusalem an einem Feigenbaum vorbeikam, sich diesen Feigenbaum genauer ansah, und ihn verfluchte. Die Jünger wunderten sich, aber nichts weiter geschah, und sie gingen mit Jesus nach Jerusalem hinein, gingen in den Tempel, und nachdem Jesus an dem Tage auch im Tempel gelehrt hatte, gingen alle an jedem Abend erneut aus der Stadt.
Am nächsten Morgen nun, als Jesus erneut mit seinen Jüngern nach Jerusalem ging, kamen sie auf dem Wege bei dem am Tage zuvor verfluchten Feigenbaum vorbei und entdeckten, dass dieser Baum quasi über Nacht verdorrt war (vgl. Markus 11,19-21). Jesus unterwies seine Jünger anhand dieser Sache über Glauben. Kurz danach, als sie sich nun Jerusalem näherten, kamen sie an einem anderen Feigenbaum vorbei, den Jesus ebenfalls näher betrachtete und verfluchte, nachdem er keinerlei Ansatz für wachsende Frucht an dem Baum gesehen hatte. Dieser Feigenbaum nun verdorrte sofort, auf der Stelle, was die Jünger sehr verwunderte. Nachdem Jesus seine Lektion über Glauben wiederholt hatte, gingen sie nach Jerusalem hinein zum Tempel, wo Jesus an jenem Tage größere Reden hielt und danach seinen Jüngern auf dem Ölberg einige dieser Wahrheiten noch weiter erläuterte.
Wie wir erkennen können, liegt die Lösung dieses augenscheinlichen Widerspruchs darin, dass man erkennt, dass es hier nicht um einen Feigenbaum geht, sondern um zwei unterschiedliche Feigenbäume, die zu unterschiedlichen Zeiten verflucht wurden und dann auch auf unterschiedliche Art und Weise verdorrten.