480 Seiten, Paperback, Euro 21,50, SFr 33,- 3. Auflage 1994, Neuer Johannes Verlag, Lugano, ISBN 978-3-907119-03-7
Hunderte von bisher ungenügend verstandenen Stellen durch aramäische Manuskripte und uralte, unverändert gebliebene orientalische Bräuche erklärt von George M. Lamsa.
Die Verwünschung des Feigenbaums
"Und des anderen Tages, da sie aus Bethanien gingen, hungerte ihn. Und er sah einen Feigenbaum von ferne, der Blätter hatte; da trat er hinzu, ob er etwas darauf fände. Und da er hinzukam, fand er nichts, als nur Blätter; denn es war nicht die Zeit für Feigen. Und Jesus hob an und sprach zu ihm: Nun esse von dir niemand mehr eine Frucht ewiglich! Und seine Jünger hörten das." Markus 11;12-14
Nach orientalischem Brauch gehörten Fruchtbäume, die an Straßenrändern oder in den Feldern nahe am Wege stehen, den vorbeiziehenden Wanderern und den Armen. Einige dieser Bäume wachsen zufällig an solchen Stellen, andere werden durch Unbekannte dort gepflanzt und sind jedermanns Eigentum. Dieser uralte Rechtsbegriff besteht in Kurdistan auch heute noch.
Eine für den Bewohner des Westens merkwürdige Auffassung bestimmt, daß der Ackerboden eines Feldes dem einen Mann und die darauf stehenden Bäume einem anderen gehören können. Pflanzt jemand einen Baum auf einem Stück Land, das Eigentum eines andern ist, und wächst dieser Baum und trägt Früchte, dann gehören Baum und Früchte demjenigen, der den Baum gepflanzt hat, und nicht dem Besitzer des Feldes. Mit anderen Worten: Der Baum ist Eigentum seines Pflanzers. Weiß man im gegebenen Augenblick nicht mehr mit Sicherheit, wem das Besitzrecht zukommt, dann wird ein solcher Baum zum öffentlichen Eigentum aller.
Da der Reisende außerhalb den Siedlungen der Straße entlang keine Lebensmittel kaufen kann, halten hungrige Wanderer stets eifrig Ausschau nach Fruchtbäumen. Sie nehmen von diesen am oder nahe am Wegrand stehenden Bäumen nicht nur, was sie im Augenblick gerade nötig haben, sondern füllen sich auch noch die Taschen für ihren Hausgebraucht. Diese Bäume sind daher rasch leergepflückt, und in vielen Fällen nimmt man ihnen die Früchte schon unreif ab. Wenn ein Reisender vielleicht nur ein einziges Mal auf einer bestimmten Straße wandert, kann bei ihm der Gedanke aufkommen, er müsse sich seinen Anteil am Früchtesegen holen, solange er ihn sich nehmen kann. Wenn dann die Erntezeit eintritt, tragen solche Bäume häufig wohl reichen Blätterschmuck, haben aber keine Früchte mehr. Am Feigenbaum erscheinen Blätter und Früchte stets gleichzeitig und fallen miteinander ab. Während die Blätter sich entfalten, werden die kleinen Feigen auch schon sichtbar, und sobald sie sich vom Baume lösen, ist die Reifezeit der Feigen bereits beendigt.
Auf seiner Wanderung von Bethanien nach Jerusalem fühlte Jesus sich hungrig, denn auch Er nahm, wie das im Nahen Orient stets Brauch war und noch ist, am frühen Morgen nichts zu sich und war daher nüchtern von zu Hause weggegangen. Da erblickte Er einen Feigenbaum und hoffte, von ihm einige Früchte pflücken zu können. Wie ein ganz gewöhnlicher Mensch, der Nahrung sucht, um seinen Hunger zu stillen, wandte Er sich zum Baum hin und nicht als Gott, als Schöpfer aller Bäume und Spender aller Früchte. Er benutzte Seine göttliche Macht nicht, um zu wissen, ob der Baum Früchte trage oder nicht, denn Er lebte und dachte in diesem Augenblick, da Er ja auch menschlich Hunger fühlte, offenbar wie ein gewöhnlicher Sterblicher. Als Er den Baum erreichte, fand Er zu Seiner Enttäuschung nur viele Blätter, aber keine Früchte, obwohl es die Reifezeit der Feigen war. Zweifellos hatten andere Wanderer schon vor Jesus alle Früchte abgepflückt. Enttäuschung und Hunger entlockten Ihm die Worte: "Nun esse von dir niemand mehr eine Frucht ewiglich!" (Mk. 11:14)
Diese Verwünschung des Feigenbaums verursacht manchen Nachfolgern Jesu Kopfzerbrechen, und viele fragen sich erstaunt, warum Jesus dies wohl tat. Einige meinen, es sei Reifezeit gewesen, aber der Baum habe keine Früchte getragen. Sie übersehen dabei, daß ein nicht zu weit vom Wegrand entfernt stehender Baum von hungrigen Wanderern geplündert wird. Denn sowie Jesus sich diesem Baume näherte, um mit seinen Früchten den Hunger zu stillen, haben viele es schon vor Ihm getan, und wahrscheinlich mit mehr Erfolg.
Andere glauben, der Baum sei mit dem Hervorbringen der Früchte zu spät gewesen. Dies konnte jedoch wohl kaum der Fall gewesen sein; denn alle Bäume stehen ja unter demselben Naturgesetz, und der im Lande aufgewachsene Jesus hätte sicher nicht zur Unzeit reife Feigen an ihm zu finden erwartet. Das Aussprechen von Verwünschungen ist eine orientalische, oft gedankenlos angewandte Gewohnheit. Beinahe immer macht der Morgenländer sich über eine Enttäuschung mit starken Worten Luft. Sucht er Wasser und findet er nur ein in den Sommermonaten ausgetrocknetes Bachbett, dann kann man erwarten, ihn sagen zu hören: "Du sollst ewig trocken bleiben; kein Wasser wird je mehr durch dich hinfließen!"
Es ist aber auch wahr, daß die Orientalen jetzt noch an die von einem heiligen Manne ausgesprochene Verwünschung glauben, genauso gut, wie sie von der Wirkung des von ihm erteilten Segens überzeugt sind. Weinberge und Herden werden auch in unseren Tagen von solchen Männern verflucht oder gesegnet. In unserem Fall ist nicht die flüchtige Verwünschung des Feigenbaumes das Wichtigste, sondern die Lehre, die wir daraus ziehen sollten: daß für diejenigen, die zum allgemeinen Wohle der menschlichen Gemeinschaft den von ihnen erwarteten Beitrag nicht beisteuern, in der Welt kein Platz ist (Mk. 11:20-21; Mt. 21: 1-20)
Die Evangelien in aramäischer Sicht
von George M. Lamsa
(473 Seiten, 6 Tafeln, 2 Register, 04. Auflage 2005
ISBN 978-3-907119-03-7
€ 21,30 zzgl. Versand)
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