von
Wolfgang Schneider
Psalm 139,1-2
1 Ein Psalm Davids, vorzusingen. HERR, du erforschest mich und kennest mich.
2 Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne.
1. Mose 22,12
Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, daß du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.
5. Mose 8,2
Und gedenke des ganzen Weges, den dich der HERR, dein Gott, geleitet hat diese vierzig Jahre in der Wüste, auf daß er dich demütigte und versuchte, damit kundwürde, was in deinem Herzen wäre, ob du seine Gebote halten würdest oder nicht.
Aus Psalm 139 scheint klar zu sein, dass Gott weiß, was im Herzen eines Menschen vorgeht, da er gar unsere Gedanken "von ferne" versteht. Andererseits aber erscheint es aus den anderen zwei Stellen so, als würde Gott nicht wissen, was im Herzen des Menschen ist, es sei denn, irgendwelche Handlungen des Menschen "offenbaren", die Gedanken seines Herzens. Sind diese Abschnitte nun widersprüchlich, oder gibt es eine andere Lösung für diesen scheinbaren Widerspruch?
Das Problem entsteht erst, wenn wir solche Abschnitte darüber, wie Gott Menschen prüft, um zu erfahren, was im Herzen eines Menschen ist, so verstehen, als wäre Gott ohne eine solche Prüfung unwissend - nun stellt sich aber die Frage: Ist ein solches Verständnis das einzig plausible oder einzig mögliche Verständnis? Oder gibt es noch eine andere Möglichkeit, diese Schriftstellen zu verstehen, so dass sie mit der Aussage in Psalm 139 in Einklang sind (und auch mit Apostelgeschichte 1,24: "und beteten und sprachen: Herr, der du aller Herzen kennst, zeige an, welchen du erwählt hast von diesen beiden, ")?
Es ist sehr gut möglich, dass Gott in diesen Situationen eine bestimmte Handlung benutzte, um dem betroffenen Menschen zu verdeutlichen und zu bestätigen, was er bereits im voraus wusste. Wir benutzten auch vielleicht manchmal ein solches Vorgehen in Unterrichtssituationen, wenn wir uns als Lehrer in die Situation der Schüler oder der Klasse versetzen und dann von ihrer Perspektive aus kommentieren: "Ich werde jetzt so und so machen, und dann will ich einmal sehen, was passieren wird." Nun, ich weiß natürlich, was passieren wird, aber die Schüler wissen es nicht! Nach dem Experiment fahre ich vielleicht noch fort mit: "Also, nun wissen wir, dass dies und jenes geschieht", obwohl ich in Wirklichkeit das bereits lange vorher wusste.
Wenn wir dies auf das Beispiel mit Abraham in 1. Mose 22,12 beziehen, so ist es so, dass nun Abraham wirklich wusste, dass Gott sein Herz kennt und dass Gottes Wissen auch wahr ist, wie die Prüfung ja zeigt, welche Abraham gerade bestanden hatte.
In diesen Versen, die den Eindruck erwecken, als wisse Gott nicht unbedingt etwas, bis dass er einige Schritte unternommen hat, um es herauszufinden, können wir sehen, wie die Kritiker den Fehler machen, bei Gott Unwissenheit anzunehmen, nur weil er nicht einfach etwas "diktiert" (was er ihrer Meinung nach eigentlich tun müsste). Aber diese Annahme ist unbegründet und offensichtlich falsch, denn Gott muss nicht, auch wenn er allwissend ist, dem Menschen diktieren, sonder kann auch andere Schritte unternehmen, mit denen er sogar besser zu dem Menschen in Kontakt stehen kann.
Der augenscheinliche Widerspruch beruht auf gewissen Annahmen beim Lesen der Textstellen, löst sich aber schnell auf, wenn man den Text ohne solche Annahmen liest.