von
Wolfgang Schneider
Im Laufe von nunmehr über zwei Jahrzehnten intensiver Beschäftigung mit biblischer Prophetie und eschatologischen Themen habe ich mich entschieden, meine bisherigen Erkenntnisse zum Buch der Offenbarung in einer Serie übersichtlicher Artikel zu einzelnen Abschnitten des Buchs zu veröffentlichen. Einige Leser meiner Artikel in der Rubrik Eschatologie haben seit einiger Zeit schon den Wunsch nach Informationen zum Buch der Offenbarung geäußert. So wird nun dieses Projekt hoffentlich eine hilfreiche Anregung für die Leser sein, sich selbst dann weiter mit der Sache zu beschäftigen und ihr Verständnis zu erweitern und zu vertiefen.
Es gibt viele, ja sehr viele Bücher, Auslegungen und Kommentare zur Offenbarung, und die bei weitem meisten erörtern das Buch auf der Prämisse, dass es sich um eine Prophetie handelt, welche im Wesentlichen noch immer zukünftige Ereignisse betrifft. Manche sehen einige Teile als bereits erfüllt, andere Teile als noch immer zukünftig; andere Autoren verstehen alle Weissagungen in dem Buch als noch immer zukünftig. Einige wenige Werke behandeln das Buch der Offenbarung als Weissagung über Ereignisse, die zum Zeitpunkt der Niederschrift in der damals nahen Zukunft lagen, die sich jedoch zwischenzeitlich und das bereits seit langem erfüllt haben.
Als ich zu Beginn meiner Beschäftigung mit der Bibel damals das Buch der Offenbarung las, war mein Verständnis aufgrund der bis dato gehörten und gelernten Ansichten zunächst ebenfalls, dass das Werk insgesamt Prophezeiungen zur noch immer zukünftigen Wiederkehr Christi und des Tags des Herrn behandelt. Das Buch war mir dennoch eher fremd und unverständlich, und für viele Jahre (ca. Mitte der 1970er Jahre bis Mitte der 1990er Jahre) führten meine Versuche, ein besseres Verständnis zu erlangen, immer wieder in eine "theologische Sackgasse", die jeweils irgendwo und irgendwie an den eigentlich klaren Schriftstellen zu zeitlichen Angaben bzgl. des Kommens Christi, des Tags (Gerichts) des Herrn, usw. aneckten und stecken blieben.
Mit entscheidend für einen Wechsel hin zu einem besseren - weil insgesamt schlüssigeren - Verständnis war die Tatsache, dass ich seit Anfang der 1990er Jahre nicht mehr im Hinblick auf biblische Lehre an Gemeinde Vorgaben "gebunden" war, sondern fortan unabhängig von Gruppenzugehörigkeit mich um einen christlichen Lebenswandel und eigenverantwortlich um mein Verständnis der Bibel als von Gott inspirierten Schrift bemühte. Leider machen viele Christen die Erfahrung, dass ihnen als theologischen Laien in ihrer Gemeinschaft ein "verbindliches Verständnis" verabreicht wird. In den wenigsten Gemeinschaften kann bzw. darf der Laie bei sich ergebenden Fragen zu verkündeten Inhalten den Prediger befragen, weil er ja dadurch angeblich "Zweifel sät", oder weil er "es wagt, die Korrektheit der Predigt und somit die geistliche Autorität des Predigers in Frage zu stellen".
Schließlich kam Bewegung in die Sache, nachdem mir klar wurde, dass meine Verständnisprobleme nicht so sehr mit mangelnden Erkenntnissen zu Einzelheiten bei meinen Überlegungen und logischen Folgerungen zu tun hatten. Die Prämisse, es handele sich um noch immer zukünftige Situationen, war inkorrekt. Wenn die logischen Folgerungen in sich korrekt sind, das Ergebnis am Ende trotzdem falsch zu sein scheint, dann liegt der Fehler darin, dass die Grundlage für die Folgerungen falsch ist.
Nach meinem Paradigmenwechsel folgten dann viel Zeit mit "neuem" Lesen der biblischen Berichte in den Evangelien und anderen NT Schriften, dabei aufmerksam auf Abschnitte und Aussagen achtend, die in irgendeiner Weise Bezug nahmen auf das Kommen des Herrn, die letzten Tage, das Ende der Welt [Äons], und damit zusammenhängende Einzelheiten. Auf der Suche nach Quellen über historische Informationen, sprachliche Details zu apokalyptischen Redewendungen, usw. sowie anderer Literatur jener Zeit der frühen Gemeinde, stieß ich auch auf einige Werke in englischer Sprache, die meine weiteren Bemühungen ganz wesentlich förderten, z.B. Werke von Frank Daniels, Jesse E. Mills, John L. Bray.
Weitere Einsichten entwickelten sich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte durch Gespräche und Austausch mit anderen Christen, wenn sich die Gelegenheit bot, Themen und Aspekte zu biblischer Prophetie und der sogenannten Endzeit zu erörtern.
Als primärer Bibeltext bei Zitaten wird in den Studien die Luther 2017Luther, M. (2017). Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017. (Evangelischen Kirche in Deutschland, Ed.) Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft. Übersetzung benutzt. Bei der Verwendung anderer Bibelübersetzungen wird dies jeweils vermerkt.
Gerade bei einem Text wie dem Inhalt des Buchs der Offenbarung ist es besonders wichtig, darauf zu achten, dass man sich zunächst bemüht, die textlich eher einfachen Stellen und Aussagen zu verstehen. In jedem Text gibt es einfacher und schwieriger zu verstehende Aussagen. Ein gesundes Prinzip zu einer korrekten Auslegung und einem korrekten Verständnis ist: Die meist wenigen schwierigen Stellen müssen im Lichte der eher vielen klaren und einfach zu verstehenden Stellen ausgelegt und verstanden werden. Es darf nicht sein, dass durch ein angenommenes Verständnis einer schwierigen Stelle das klare Verständnis der vielen einfachen Aussagen aufgehoben wird.
Bei sorgfältigem Lesen des Buchs der Offenbarung ist ersichtlich, dass insbesondere die Aussagen mit zeitlichen Angaben bzgl. der Erfüllung der darin gemachten Weissagungen einfach zu verstehen sind. Die Aussagen zum Inhalt etwa der Visionen, die Johannes offenbart wurden, und die darin benutzte Sprache und die Bilder sind ganz sicher sehr viel schwieriger zu verstehen.
Wendet man nun das gerade erwähnte Prinzip an, so sollte man z.B. nicht so vorgehen, dass man aufgrund eines angenommenen Verständnisses einer Vision dann folgert, die Sache könne sich ja noch nicht so ereignet haben, wie man sich das vorstellt, und sie müsse daher noch immer zukünftig sein. Damit würde man dann die doch klaren und einfach zu verstehenden zeitlichen Aussagen einfach versuchen zu verleugnen, diese dann irgendwie anders zu erklären, um sie "passend" zu machen. Mit anderen Worten, diese leider weit verbreitete Auslegungsunsitte verkompliziert und ruiniert das vorhandene Verständnis der klaren und einfachen Aussagen, ohne überhaupt ein wirklich klares und textlich fundiertes Verständnis der schwierigeren Stelle zu geben.
Die zeitlichen Angaben zum in der Offenbarung geschilderten Kommen des Herrn bzw. dem Tag (Gericht) des Herrn sind vom Text und Wortlaut eindeutig und wahrlich leicht verständlich. In meiner Studie Aussagen in der Offenbarung über Jesu Kommen habe ich hierzu bereits weitere Einzelheiten dargelegt. Um diese zeitlich relevanten Aussagen korrekt einzuordnen und zu verstehen, muss man selbstverständlich beachten, wann die Aussagen gemacht und niedergeschrieben wurden. Zu diesem wichtigen Aspekt habe ich Einzelheiten in der Studie Wann wurde die Offenbarung geschrieben? erarbeitet. Ich möchte daher jedem interessierten Leser empfehlen, diese beiden Studien zunächst zu lesen und sich die darin erwähnten Details zu eigen zu machen.
Für eine korrekte Auslegung eines Textes ist es weiterhin notwendig, aus dem jeweiligen Kontext heraus zu lernen, ob Aussagen im buchstäblichen wörtlichen Sinn gemacht wurden, oder ob der Autor zur Betonung von bestimmten Punkten in seiner Aussage bestimmte Redefiguren nutzte, mittels denen er z.B. etwas nicht wörtlich ausgedrückt, sondern mit bildhaften Vergleichen, Wiederholungen, ungewöhnlich formulierten Satzstrukturen, usw. versehen hat. Es ist offensichtlich, dass die Passagen, die wörtlich gemeint sind und keine Redefiguren verwenden, meist einfach und leicht verständlich sind. Sind Redefiguren einbezogen, wird die Sache schon etwas schwieriger, da man Kenntnisse zur Nutzung von Redefiguren benötigt, um das korrekte - nämlich das vom Autor beabsichtigte - Verständnis zu erlangen.
Ein weiterer wichtiger Punkt gerade im Hinblick auf das Buch der Offenbarung betrifft die Erkenntnis, dass in diesem Buch nicht nur gewisse einzelne Redefiguren genutzt werden, sondern ganze Abschnitte eine Art apokalyptischer Sprache benutzen, um insgesamt dem Leser einen überwältigenden Eindruck des katastrophalen Geschehens zu vermitteln. Zudem sind viele der benutzten idiomatischen Ausdrücke und Sprachbilder im semitischen Sprachraum (z.B. Hebräisch, Aramäisch) beheimatet, die für heutige Leser aus einer anderen Sprache zunächst fremd und unverständlich sind. Es braucht daher eine gewisse Einarbeitung und sich einlesen, um wenigstens teilweise ein Sprachgefühl für diese Art von Text zu entwickeln.
Im Buch der Offenbarung schildert und beschreibt Johannes in weiten Teilen Visionen und Offenbarungen, die ihm zuteilwurden. Einige der Offenbarungen sind in Form von eher einfach verständlichen Botschaften gehalten, z.B. in den ersten Kapiteln aufgezeichnete Informationen an die sieben Gemeinden in der Provinz Asia. Andere Offenbarungen waren Visionen fast in Form von Bildern bzw. Filmen, in denen ihm unterschiedliche Informationen betreffend irdische und auch himmlische Dinge mitgeteilt wurden. All diese Informationen betrafen Ereignisse, die sich in naher Zukunft ereignen würden. Somit wird klar, dass ein korrektes Verständnis dieser Visionen im Zusammenhang mit damals nahen bevorstehenden Ereignissen stehen muss und nicht davon losgelöst interpretiert werden sollte.
Es ist schwierig zu sagen, ob Johannes selbst bzw. die Gläubigen in den sieben Gemeinden alles im Detail verstanden, als sie die Information in den Visionen empfingen und hörten. Ich würde davon ausgehen, dass es in den Visionen auch nicht auf jedes erwähnte kleine Detail ankam und dies jeweils etwas Spezielles bedeutete, sondern manche Dinge zusammen eine bestimmte Information vermitteln sollte. Das größere Szenario ist mehr im Fokus als viele kleine Einzelheiten. Das sollte man auch beim Lesen und den Bemühungen um ein rechtes Verständnis beachten.
Zu den Visionen gilt es noch eine wichtige Sache zu beachten: Die erwähnten Gestalten und Situationen sind Teil der Vision, existieren daher nur in Form von Bild und Wort, nicht aber tatsächlich in der "gesehenen Gestalt". Mit anderen Worten, bei der Vision handelt es sich nicht um eine filmische Dokumentation real existierender Gestalten und Dinge. Es gab und gibt kein real existierendes Tier mit vielen Köpfen, auch wenn Johannes in einer Vision ein solches Tier sah. Johannes sah geflügelte Gestalten um einen Thron im Himmel, die mehrere Arten von "Gesichtern" hatten, usw., und doch existieren solche Lebewesen mit derartigen physischen Körpern natürlich nicht tatsächlich im Himmel, wobei "Himmel" den geistlichen Bereich in Gottes Gegenwart bezeichnet.
Bei diesen Betrachtungen sei noch darauf hingewiesen, dass im Buch der Offenbarung vielfach und auf vielfältige Weise auch Bezug genommen wird auf Stellen und Aussagen aus Schriften des AT. Unter anderen wird aus den Propheten Jesaja, Daniel, Sacharja und Amos zitiert. Es finden sich auch Hinweise auf Ähnlichkeiten mit Ereignissen, die sich seinerzeit ereigneten und nun in Verbindung mit dem seinem Gott YHWH abtrünnig gewordenen Volk Israel eintreten würden. Auch wird manche apokalyptische Redeweise in der Schilderung des kommenden Gerichts verwendet, die man bereits in Aussagen im AT über andere Situationen und Gerichte Gottes, etwa über das Babylonische Reich, findet.
Das Buch gliedert sich in einige größere Abschnitte, die am Anfang von einer Einleitung und am Ende von einem Abschnitt mit abschließenden Bemerkungen flankiert sind:
Einleitung und Abschluss definieren den zeitlichen Rahmen für die Dinge, die dann in den Hauptteilen des Buchs offenbart sind (vgl. dazu die Studie Aussagen in der Offenbarung über Jesu Kommen). In den Briefen an die sieben Gemeinden sieht man ebenfalls die Dringlichkeit wegen der nahen bevorstehenden Ereignisse anhand der gegebenen Warnungen an diese spezifischen Gemeinschaften. Die Abschnitte von den Visionen mit Symbolen des kommenden Gerichts vermitteln den Eindruck eines baldigen, schnellen und gewaltigen Gerichts über Israel, nach welchem absolut nichts mehr für das Volk Israel so sein wird, wie es zuvor war. Der Gesamteindruck des furchtbaren Gerichts steht im Vordergrund, mehr als eine genaue Bedeutung aller benutzten Symbole, von denen eh nicht alle eine spezifische Bedeutung haben.
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Ich halte es für ehrlicher und besser,
die einfachen Aussagen zum zeitlichen Rahmen zu verstehen
und unbeantwortete Fragen zu den schwierigen Aussagen zu haben,
als zu meinen, die schwierigen Stellen zu verstehen
und damit dann Probleme mit den einfachen Aussagen zu produzieren.