Vorwort

Der Bericht über die Vision eines Tempels im Buch des Propheten Hesekiel (Hes 40 - 48) ist von vielen Kommentatoren und Predigern als schwierig angesehen worden. Im Laufe der Zeit hat es diesbzgl. einige Versuche gegeben, diese Vision im Kontext der biblischen Gesamtoffenbarung zu verstehen, die allerdings zumeist unbefriedigend blieben. Das hat seine Ursache darin, dass zwar jeweils einige Aussagen insgesamt zu passen scheinen, diese aber dann doch wieder andere Fragen aufwerfen und Probleme mit Widersprüchen zu anderen Aussagen der Bibel verursachen.

In dieser kleinen Studie will ich einige der vorgeschlagenen Interpretationen erwähnen und dann kurz die Grundidee wie auch die sich ergebenden Schwierigkeiten erwähnen. Abschließend möchte ich dann aufzeigen, was sich aus meinem momentanen Verständnis heraus als eine mögliche und für mich als wahrscheinlichste Lösung dieses Auslegungsproblems ergibt. Zunächst sollte man erwähnte Details zum Zeitpunkt, zu Umständen, Inhalt, u.ä. beachten.

Grundlegendes

Hesekiel sah diese Vision "im 25. Jahr unserer Gefangenschaft", also während der Zeit des Exils in Babylon. In der Vision wurde Hesekiel ins Land Israel geführt und YHWH offenbarte ihm Einzelheiten zu einem Tempel in Jerusalem, die ihm von einem Boten gezeigt und erläutert wurden und von Hesekiel dann dem Volk Israel verkündet werden sollten (vgl. Hes 40,1-4Hes 40,1-4
1 Im fünfundzwanzigsten Jahr unserer Gefangenschaft, im Anfang des Jahres, am zehnten Tag des Monats, im vierzehnten Jahr, nachdem die Stadt eingenommen war, eben an diesem Tag kam die Hand des HERRN über mich und führte mich dorthin, – 2 in göttlichen Gesichten führte er mich ins Land Israel und stellte mich auf einen sehr hohen Berg; darauf war etwas wie der Bau einer Stadt gegen Süden. 3 Und als er mich dorthin gebracht hatte, siehe, da war ein Mann, der war anzuschauen wie Erz. Er hatte eine leinene Schnur und eine Messrute in seiner Hand und stand im Tor. 4 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, sieh her und höre fleißig zu und merke auf alles, was ich dir zeigen will; denn dazu bist du hierher gebracht, dass ich dir dies zeige, damit du alles, was du hier siehst, verkündigst dem Hause Israel.
).

Der Bote mit dem Messstab führt Hesekiel quasi durch die einzelnen Bereiche dieses Tempels und erläutert dabei viele Einzelheiten zu den Mauern, den Toren, den Höfen und Räumen. Im weiteren Verlauf der Vision werden die verschiedenen Opferrituale beschrieben, die von den Priestern verrichtet werden. Besondere Erwähnung findet dabei einer der Priester, der hier als "der Fürst" bezeichnet wird. Gegen Ende der Beschreibungen des Tempels wird dann noch ein Strom erwähnt, der von unter dem Tempel weg fließt. Zum Schluss erwähnt der Bericht dann noch die Anteile der einzelnen Stämme am Land.

Bemerkenswert ist auch, dass Hesekiel in einer Situation sieht, wie die Herrlichkeit YHWHs in den Tempel zurückzukehren scheint (vgl. Hes 43,1-4Hes 43,1-4
1 Und er führte mich wieder zum Tor im Osten. 2 Und siehe, die Herrlichkeit des Gottes Israels kam von Osten und brauste, wie ein großes Wasser braust, und es ward sehr licht auf der Erde von seiner Herrlichkeit. 3 Und es war ganz so wie das Gesicht, das ich geschaut hatte, als der Herr kam, um die Stadt zu zerstören, und wie das Gesicht, das ich gesehen hatte am Fluss Kebar. Da fiel ich nieder auf mein Angesicht. 4 Und die Herrlichkeit des HERRN kam hinein in das Tempelhaus durch adas Tor, das nach Osten liegt.
), die er in einer anderen früheren Vision gesehen hatte, wie sie vom Tempel gewichen war (vgl. Hes 10,4.18-19Hes 10,4.18-19
4 Und die Herrlichkeit des HERRN erhob sich von dem Cherub zur Schwelle des Hauses, und das Haus wurde erfüllt mit der Wolke und der Vorhof mit dem Glanz der Herrlichkeit des HERRN. ... 18 Und die Herrlichkeit des HERRN ging hinaus von der Schwelle des Tempels und stellte sich über die Cherubim. 19 Da schwangen die Cherubim ihre Flügel und erhoben sich von der Erde vor meinen Augen, und als sie hinausgingen, gingen die Räder mit. Und sie traten in den Eingang des östlichen Tores am Hause des HERRN, und die Herrlichkeit des Gottes Israels war oben über ihnen.
).

Der Bericht ist nicht so sehr wegen der vielen Einzelheiten zu Maßen und Bauwerk dieses Tempels problematisch, sondern wegen der Schwierigkeiten, Zeit und Art und Weise der Erfüllung dieser Weissagung zu bestimmen. Die Kardinalfrage lautet: Wann wurde dies erfüllt bzw. wann wird sich dies erfüllen? Anders ausgedrückt: Von welchem Tempel ist hier die Rede?

WIr wollen zunächst einige in biblischen Berichten erwähnte und mögliche Tempel "Kandidaten" kurz genauer anschauen und darauf achten, inwieweit sie als mögliche Erfüllung der Weissagung in Frage kommen, oder ob es Punkte gibt, aufgrund derer sie aus den Überlegungen ausscheiden.

Salomos Tempel?

Da wäre zunächst Salomos Tempel. Dieser Tempel lag aber zum Zeitpunkt der Vision bereits einige Jahre in Trümmern, da er zuvor bei der Eroberung Jerusalems und Wegführung der Juden nach Babylon durch Nebukadnezar zerstört worden war. Es ergibt keinen Sinn, dass Hesekiel diesen Tempel gesehen hat.

Serubbabels Tempel?

Der Tempel, der nach der Rückkehr eines Teils der Juden aus Babylon in Jerusalem aufgebaut wurde unter Leitung von Serubbabel erscheint zunächst eine sehr plausible Antwort zu sein. Allerdings gibt es hier das Problem, dass Serubbabels Tempel dann wesentlich kleiner und weniger prachtvoll ausfiel als der Tempel in Hesekiels Vision.

Falls nun Hesekiels Weissagung dieser Tempel sein sollte, hat sich die Weissagung eigentlich nicht korrekt erfüllt und wäre fehlerhaft gewesen. Das aber wäre nicht akzeptabel.

Die NT Gemeinde Gottes?

Einige Kommentare meinen, diese Kapitel seien am besten figurativ auszulegen als eine Beschreibung der NT Gemeinde Gottes. Sie stützen sich dabei auf NT Stellen, in denen die Gemeinde als Tempel oder Wohnung Gottes bezeichnet wird (vgl. 1Ko 3,161Ko 3,16
16 Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?
; Eph 2,20-22Eph 2,20-22
20 erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist, 21 auf welchem der ganze Bau ineinandergefügt wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn. 22 Durch ihn werdet auch ihr mit erbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist.
; 1Pe 2,5 1Pe 2,5
5 Und auch ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen Hause und zur heiligen Priesterschaft, zu opfern geistliche Opfer, die Gott wohlgefällig sind durch Jesus Christus.
).

Bei dieser Auslegung würden sich die erwähnten Rituale des Gottesdiensts im Tempel irgendwie geistlich auf den Gottesdienst der Gläubigen jetzt in unserem biblischen NT Zeitalter beziehen. Dabei ergibt sich aber das Problem, dass nun sehr viele der erwähnten Details oberflächlich und überflüssig wären und kaum wirklich überzeugend Handlungen unseres Gottesdienstes zugeordnet werden können.

Tempel im 1000jährigen Reich?

Angesichts der Schwierigkeiten mit obigen Auslegungen, erwägen vor allem Anhänger der theologischen Methode des Dispensationalismus, die Möglichkeit, es handele sich bei Hesekiels Vision um einen "dritten" buchstäblichen irdischen Tempel, der noch gar nicht existiert und erst mit dem zweiten Kommen Jesu in Jerusalem errichtet wird. Dieser Tempel würde dann während des sogenannten Millenniums als das religiöse Zentrum für alle Gläubigen in der Welt dienen. Der in Hesekiel erwähnte "Fürst" ist in dieser Auslegung dann Jesus selbst als König über das 1000jährige Reich.

Das Hauptproblem mit dieser Idee sind verschiedene NT Aussagen, etwa in Heb 10,10-18Heb 10,10-18
10 Nach diesem Willen sind wir geheiligt ein für alle Mal durch das Opfer des Leibes Jesu Christi. 11 Und jeder Priester steht Tag für Tag da und versieht seinen Dienst und bringt oftmals die gleichen Opfer dar, die doch niemals die Sünden wegnehmen können. 12 Dieser aber hat ein einziges Opfer für die Sünden dargebracht, das ewiglich gilt, und hat sich zur Rechten Gottes gesetzt 13 und wartet hinfort, bis seine Feinde zum Schemel unter seine Füße gelegt werden. 14 Denn mit einem einzigen Opfer hat er für immer die vollendet, die geheiligt werden. 15 Das bezeugt uns aber auch der Heilige Geist. Denn nachdem er gesagt hat (Jeremia 31,33–34): 16 »Das ist der Bund, den ich mit ihnen schließen will nach diesen Tagen«, spricht der Herr: »Ich will meine Gesetze in ihr Herz geben, und in ihren Sinn will ich sie schreiben, 17 und ihrer Sünden und ihrer Missetaten will ich nicht mehr gedenken.« 18 Wo aber Vergebung der Sünden ist, da geschieht kein Opfer mehr für die Sünde.
, die Jesu Tod als Ende der Wirksamkeit von im Tempel geopferten Tieropfern verkündet. Es wird dann gesagt, die Tieropfer in Hesekiel seien nicht für Vergebung von Sünden, sondern sie dienten dann rückblickend auf Christi Opfer als Gedenken des von Christus vollbrachten Werks. So schön das klingen mag, der Text in Hesekiel selbst schließt diese Idee aus (vgl. Hes 45,17 - "soll Sühne schaffen für das Haus Israel"). Es geht als um Sühne schaffen, nicht um ein Gedächtnis (wie z.B. 1Ko 11,24-26 - "Brot und Wein"). Weiterhin "soll der Fürst für sich und für alles Volk des Landes einen Stier zum Sündopfer opfern" (vgl. Hes 45,22Hes 45,22
22 An diesem Tag soll der Fürst für sich und für alles Volk des Landes einen Stier zum Sündopfer opfern.
), so dass der Fürst nicht Jesus sein kann.

In Hesekiel haben die Leviten erneut den Priesterdienst in jenem Tempel inne. In NT Aussagen ist aber von einem Wechsel des Priestertums die Rede (vgl Heb 7,12Heb 7,12
12 Denn wo das Priestertum verändert wird, da muss auch das Gesetz verändert werden.
; 1Pe 2,51Pe 2,5
5 Und auch ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen Hause und zur heiligen Priesterschaft, zu opfern geistliche Opfer, die Gott wohlgefällig sind durch Jesus Christus.
). Zudem gibt es nun keinen Hohepriester aus der Linie Aarons, sondern nun ist Jesus der Hohepriester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks (vgl. Heb 7,17.21Heb 7,17.21
17 Denn es wird bezeugt (Psalm 110,4): »Du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks.« ... 21 dieser aber durch den Eid dessen, der zu ihm spricht (Psalm 110,4): »Der Herr hat geschworen und es wird ihn nicht gereuen: Du bist Priester in Ewigkeit.«
).

Eine andere Schwierigkeit besteht darin, dass nun in der NT Gemeinde doch gar kein einzelner Ort als Ort der Anbetung mehr existiert, wie Jesus gegenüber der Samariterin erläuterte (vgl. etwa Joh 4,21-24Joh 4,21-24
21 Jesus spricht zu ihr: Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. 22 Ihr wisst nicht, was ihr anbetet; wir aber wissen, was wir anbeten; denn das Heil kommt von den Juden. 23 Aber es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben. 24 Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.
; Apg 7,48-50Apg 7,48-50
48 Aber der Höchste wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind, wie der Prophet spricht (Jesaja 66,1–2): 49 »Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel meiner Füße; was wollt ihr mir denn für ein Haus bauen«, spricht der Herr, »oder was ist die Stätte meiner Ruhe? 50 Hat nicht meine Hand das alles gemacht?«
). Warum sollte dann in Zukunft eine Rückkehr davon erfolgen?

Ein weiterer Gedanke scheint die Idee eines noch immer zukünftigen irdischen "dritten" Tempels doch sehr in Frage zu stellen: Wieso würde Hesekiel von einem dritten Tempel in Jerusalem weissagen, da doch zu jenem Zeitpunkt der "erste" Tempel in Trümmern lag, und ein Wiederaufbau eines "zweiten" Tempels nicht einmal ansatzweise in Erwägung gezogen worden war, geschweige denn, dass dieser "zweite" Tempel bereits zerstört war??

Mögliche Lösung

Nach obigen Überlegungen zu den soweit bekannten Fakten zum Thema scheint mir sicher, dass die Vision von einem irdischen Tempel handelt, und dass dieser zum Zeitpunkt der Vision noch zukünftig war. Damit ergibt sich, dass es sich wohl um den Tempel handelt, der nach der Rückkehr aus der Babylonischen Gefangenschaft in Jerusalem errichtet werden sollte.

Allerdings wurde dieser Tempel in der Gestalt und Form, wie sie Hesekiel sah und den Israeliten verkündete, offensichtlich nie so gebaut. So hätte es sein sollen, war es aber nicht. Es gibt in Hesekiel einen Hinweis, dass die Realisierung dieses Tempels gemäß der Vision von dem bußfertigen Verhalten der Israeliten abhängig war, ob sie ihre vergangenen Sünden tatsächlich bereuten (vgl.Hes 43,10-12 - "... beschreibe dem Haus Israel den Tempel, dass sie sich schämen ihrer Missetaten. Und wenn sie seine Anlage ausmessen, so sollen sie sich all dessen schämen, was sie getan haben. Zeige ihnen Plan und Anlage des Tempels und seine Ausgänge und Eingänge und seinen ganzen Plan und alle seine Ordnungen und alle seine Gesetze... Siehe, das ist das Gesetz des Tempels").

Wie die biblischen Berichte zeigen, war Israels Reaktion auf die Gelegenheit der Rückkehr nach Jerusalem und des Wiederaufbaus des Tempels sehr verhalten, denn nur der kleinere Rest des Volks kehrte überhaupt zurück, der größere Teil zog es vor, in der Fremde zu bleiben. So wurde dieser Tempel nie gemäß der Vorgaben in der Vision realisiert, und der Tempel, den sie dann bauten, war demgegenüber minderwertig.

Hätte Israel Gottes Bedingungen erfüllt, um einen solchen Tempel zu haben, wäre dieser wie die Stiftshütte und der Tempel Salomos ein Zeugnis und Typus für die "himmlischen Realitäten" der neuen Ordnung in Christus gewesen (vgl. Heb 8,5Heb 8,5
5 Sie dienen aber dem Abbild und Schatten des Himmlischen, wie die göttliche Weisung an Mose erging, als er das Zelt errichten sollte (2. Mose 25,40): »Sieh zu«, heißt es, »dass du alles machst nach dem Bilde, das dir auf dem Berge gezeigt worden ist.«
).

 

Übersicht Artikel